Ich ziehe meine Strickjacke von beiden Seiten um mich herum, wie eine Umarmung, soll sie mich wärmer halten, jetzt wo sie mich so eng umschlingt. Die Frühlingsluft fröstelt mich und doch möchte ich so tief ich kann ein und ausatmen, denn das frische grün, die Kälte des morgens und die Atmosphäre des Waldes, will ich am Liebsten aufsaugen. Unter mir knirschen die kleinen Steine des Waldweges und rechts und links von mir hat sich ein Teppich aus kleinen Blumen über den Waldboden gelegt. Sie sehen zwischen den riesigen, großen, starken Bäumen noch kleiner aus, als sie eigentlich sind.
Es sind tausende und ich bin froh, dass keine von ihnen aufgehört hat zu blühen, nur weil sie sich klein und unwichtig fühlt. Sie blühen den großen Riesen entgegen, nur für einen kurzen Moment zeigen sie sich und kommen jedes Jahr wieder.
Ich bin hier im Wald, um meinen Gedanken Raum zu geben, die im Alltag so selten zu Ende gedacht werden. Die letzten Jahre hatten mich irgendwie gebrochen. So vieles war aus meiner schwarz-weißen Welt heraus gebrochen. Und ich finde langsam den Mut, mein Bauchgefühl und die leisen Stimmen in mir ernst zu nehmen und ihnen zuzuhören. Einige höre ich besser hier im Wald. Vieles von dem was ich geglaubt und getan hatte, erwies sich als nicht mehr tragbar für mich. Ich sah hinter die Fassaden – auch hinter meine eigene. Und ich schämte mich für einiges, das ich gesagt und getan hatte. Und ich hatte begonnen, meine Wünsche zu respektieren. Ich musste nicht alle Entscheidungen aus Vernunft treffen, alle diese Pflichten hatten mich so erwachsen und erst gemacht. Ich konnte immer häufiger sagen: „Ich will das so einfach nicht.“ Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert, muss ich in letzter Zeit häufiger denken. Denn der Satz „Was sollen die Leute denken?“ zieht bei mir nicht mehr. Ich bin schon viel zu oft an meinen eigenen Idealen gescheitert. Oh, was wollte ich für eine wundervoll ruhige, gelassene, weise, betende Mutter sein. Ich bin es einfach nicht. So sehr ich es auch versucht habe. Ich bin oft laut, ehrlich, wild und impulsiv. Und diese ganze Geschichte mit Äthiopien, Corona und dem hineinstolpern in ein neues Leben hier in Deutschland. All das hatte ich nicht geplant, nicht gewollt und hätte vorher gedacht, es würde zehn kluge Tipps geben, so ein Scheitern zu verhindern. Ich wollte, oder dachte ich müsste, ein Vorbild sein. Aber ich kann es heute tatsächlich nicht mehr empfehlen, mein Leben zu leben. Denn dann würde jemand ja ihr eigenes verpassen und außerdem würde es mit jeder Menge Schmerz, Verlust, Konflikten und Zerbrüchen einhergehen mein Leben nachzuleben. Ich will kein Vorbild mehr sein, nein, höchstens eine Inspiration dazu aufzuhören eins sein zu wollen. Ich habe letztens gehört, es sei ein Lebensmitte-Thema dieses Aufweichen aus dualistischen inneren Systemen. Das Leben macht einen mit der Zeit irgendwie toleranter, weicher und weitsichtiger. Vielleicht ist es auch das.
All das konnte ich hier in diesem Wald inmitten dieser Bäume, die schon so lange hier standen und wohl schon so einige nachdenkliche Spazierende vorbeiziehen sehen haben, einfach laut denken. Hier konnte man es aushalten, hier musste ich nicht gefallen. Hier konnte ich weich fallen auf diesen weichen, blumenüberstähten, massigen Waldboden auf den mein Blick jetzt fiel.
Ich blieb wie angewurzelt stehen, als ich dort plötzlich im ganzen Wald etwas entdeckte. Ich war schon so oft hier gewesen und hatte es nie gesehen. Ich hatte so oft nach oben geschaut und durch die Zweige und Blätter das schattige Licht genossen, hatte die starken Buchenstämme entlang gesehen und sie bestaunt. Doch da am Boden lagen überall gefallene Bäume. Einige waren samt Wurzel im letzten Sturm gefallen, andere waren schon längst von Moos überwachsen und waren nun dabei sich in den Boden einzufügen. Wieder andere waren auf halber Höhe abgebrochen und hingen noch irgendwo am benachbarten Baum fest. Ich sah sie dort liegen in all ihrer majestätischen Größe und ehemaligen Stärke. Und meine Augen füllten sich mit Tränen. Einfach so hier plötzlich angewurzelt im Wald. Sie gehören zum Wald dazu die gefallenen Bäume, so wie enttäuschte Träume, unerfüllte Erwartungen und schmerzhafte Enttäuschungen zu meinem Leben dazu gehören. Ohne sie hätten die anderen Bäume nicht genug Platz, die Blumen am Boden nicht genug Licht, das ganze System ist in sich stimmig, weil nicht jede Idee, nicht jeder Plan einer für die Ewigkeit ist. Ich höre in meinem inneren Ohr ihr lautes Krachen, mit dem der stabile Stamm bricht und den ganzen Wald erfüllt. Ihr dumpfes Aufprallen auf dem Boden, das dumpf und schwer wie die ersten Schaufeln Sand auf dem Sarg im Grab klingt. Und ich fühle meinen Schmerz darüber, dass das Leben irgendwie so anders ist als ich es Anfang zwanzig gedacht habe. Und dann ist es plötzlich still.
Ich laufe weiter. Lasse meine Strickjacke los, die Sonne ist jetzt schon wärmer. Ich fühle mich irgendwie frei. Als wäre gerade eine wichtige Wahrheit in mir zur Ruhe gekommen. Mein Gang wir ruhiger, ich gehe langsam nach Hause und nehme mir vor, beim nächsten Spaziergang ein Proviant mitzunehmen und es mir auf einem der gefallenen dicken Stämme gemütlich zu machen. Auf ihnen kann man sich ausruhen, auf ihnen muss man nichts leisten. Auf ihnen können auch Gebrochene und Gescheiterte eine Pause machen. Sie gehören dazu und sind wichtig für den Wald, sie düngen und beleben die gesunden Pflanzen, sie werden zu Nährboden. Doch sie sind nicht nur sinnvoll hier im Wald, sie sind auch für mich gefallen.